Gebrauchsanleitung
Liebe Eltern, Bezugs- und Fachpersonen,
unser Bilderbuch von Tilda und der Krake Tinti soll als Grundlage dienen, zusammen mit ihrem Kind eigene Worte für die erlebte Frühgeburt zu finden. Natürlich sind beim Erzählen auch die Geschwister, Grosseltern und Paten willkommen. Sobald Kinder beginnen Fragen zu stellen, sind Sie als Eltern eingeladen, zusammen mit dem Kind Antworten zu formulieren. Beim Erzählen können Sie nichts falsch machen, die Bilder führen Sie durch Tildas Geschichte und Tinti verkörpert den treuen Verbündeten mit Superkräften, der niemals aufgibt und den Humor nicht verliert.
Der gehäkelte Oktopus mit seinen Tentakeln ist das Maskottchen der Frühgeborenen. Schon in der Gebärmutter halten die Babys die Nabelschnur mit den Fingern, um sich zu beruhigen. Die gehäkelten Tentakel passen nach der Geburt perfekt für den stark ausgebildeten Greifreflex der frühgeborenen Kinder, sie dienen weiterhin der Regulation und Orientierung und lenken vom Greifen der Schläuche und der Magensode ab.
Die Känguru-Methode, auch Kangarooing genannt, ist ein fester Bestandteil der entwicklungsfördernden Pflege auf der Neonatologie. Durch den Haut-zu-Haut Kontakt zwischen dem Kind und seinen Eltern wird das Hormon Oxytocin ausgeschüttet. Oxytocin gilt als Schlüsselhormon für den Bindungsaufbau. Beim Kangarooing werden alle Sinne angeregt. Das Kind wird durch die Stimme der Eltern akustisch stimuliert, hört ihren Herzschlag und kann den Körpergeruch wahrnehmen. Durch den intensiven Kontakt wird unter anderem die Stillbeziehung zwischen Mutter und Kind gefördert, häufig verlängert sich die Stilldauer. Die erhöhte Oxytocin-Ausschüttung während dem Känguruhing bahnt feinfühliges Verhalten bei Vater und Mutter. Das Kangarooing kann so oft und so lange angewandt werden, wie es der Zustand des Kindes und die Situation auf der Station erlauben.
Durch die Unterstützung der Physiotherapeut:innen kann das Frühgeborene seinen Körper, den Kopf, die Arme und die Beine auch unter dem verfrühten Einfluss der Schwerkraft immer selbständiger steuern und bewegen. Mit der Zeit kann das Kind sich drehen, es beginnt zu krabbeln, aufzustehen und zu gehen. Mit jedem Fortschritt entdeckt es die Welt auf neue Weise.

Die Musiktherapie wirkt sich nachweislich positiv auf die Gehirnentwicklung des frühgeborenen Kindes aus, das Kind beruhigt sich durch die Klänge der Musik und Atmung und Herzschlag werden regemlässiger.
Die Psychologin begleitet die Eltern dabei den Schock der frühen Geburt zu verarbeiten und die Situation schrittweise zu akzeptieren. Kindliche Entwicklung verläuft immer wieder in Krisen (zwei Schritte vor und einen zurück) und so gehören die Rückschritte während dem Aufenthalt auf der Neonatologie dazu. Die Psychologin unterstützt die Mutter und den Vater darin, ihre Aufmerksamkeit nebst der Freude und Sorge um das Kind auch auf die eigenen Bedürfnisse zu lenken. Alles, was die Eltern in den ersten Lebenswochen sich selbst Gutes tun, geben sie direkt an ihr Kind weiter. Denn nicht nur das Kind ist frühgeboren, sondern die ganze Familie!
In unserer Geschichte sind Tilda und Tinti ein unschlagbares Team. Lassen Sie sich einfach von den Bildern und Fragen des Kindes beim Erzählen anregen und ermutigen Sie ihr Kind eigene Worte für seine Geschichte zu finden. Es kann sein, dass die Geschichte viele, viele Male immer wieder ein bisschen anders erzählt werden muss und das ehemals frühgeborene Kind so langsam eigene Worte für die einmalige Geburtserfahrung findet und damit den besonderen Start ins Leben integrieren kann. Mit jedem Erzählen wird die Erinnerung neu abgespeichert, und aus der Frühgeburt kann schrittweise eine erste Bewältigungserfahrung und der ganz eigene Start ins Leben werden. Und das Erzählen fördert gleichzeitig die Sprachentwicklung Ihres Kindes. Tinti kann im Erleben vom Kind mit der Zeit zu einem imaginativen inneren Freund werden, der ihm mutig und mit guten Ideen zur Seite steht.
Tinti repräsentiert zudem die ganze Palette kindlicher Emotionen und Sie als Bezugs- oder Fachperson können zusammen mit dem Kind diese Emotionen entdecken und gemeinsam benennen. Dadurch wird die Fähigkeit zur Emotionsregulation gestärkt. Für Tinti gibt es in jeder Situation eine Lösung, er hat Superkräfte und gibt niemals auf.
Resilient macht es unsere Kinder nicht, keine Schwierigkeiten zu haben, sondern sich wie Tilda und Tinti den Herausforderungen des Lebens zu stellen und gemeinsam mit den Eltern und dem Behandlungsteam einen Entwicklungsschritt nach dem anderen zu bewältigen. Die Erfahrung in schwierigen Momenten nicht allein zu sein, sondern Menschen, um sich zu haben, die da sind, an einen glauben und helfen, macht Kinder stark und widerstandsfähig!
Das Ziel unseres Buches ist es, ältere frühgeborene Kinder und ihre Eltern bei der Verarbeitung der vorsprachlichen Erlebnisse im Rahmen der frühen Geburt zu unterstützen und Fachpersonen (Pädagog:innen, Pädiater:innen, Heilpädagog:innen, Psychotherapeut:innen und anderen) ein Werkzeug in die Hand zu geben, um betroffene Familien zu begleiten. Eine gelungene Integration der frühen Geburt stabilisiert die psychische und körperliche Gesundheit des Kindes und fördert seine Beziehungsfähigkeit. Das Buch soll Sie als Eltern ermutigen, in der häufig problemorientierten ersten Phase nach der Frühgeburt, lebenswerte Perspektiven für das Kind und die ganze Familie zu entwickeln und mit dem Kind zusammen die individuelle Geschichte des Lebensanfangs in Worte zu fassen. Ideal wäre es, das Thema der frühen Geburt vor dem Schuleintritt zu thematisieren. Die Verarbeitung der Geburt setzt emotionale und kognitive Ressourcen beim Kind frei und stärkt den Selbstwert.
Familienzentrierte Neonatologie
Auf der Neonatologie der Universitätsklinik für Kinderheilkunde in Bern haben wir ein Pilotprojekt gestartet. Hier wird durch den Peer-Pool von Frühchen Schweiz allen Familien, deren Frühchen mindestens 4 Tage auf der Neonatologie hospitalisiert ist, ein Bilderbuch „Kraken kennen keine Berge“ überreicht. Jedes Exemplar ist durch einen Aufkleber mit Namen des Kindes personalisiert und wird persönlich mit einer kurzen Erklärung übergeben. Im Buch ist zusätzlich ein psychologisch fundierter Begleittext zur Nutzung des Buches vorhanden.
Bisher durften wir viele begeisterte Rückmeldungen von betroffenen Eltern entgegennehmen, die die Geschichte dem Kind von Anfang an vorlesen, sich damit orientieren und eine Vorstellung für die Stationen auf der Neonatologie entwickeln oder das Bilderbuch mit Geschwisterkindern und dem sozialen Umfeld anschauen. Dadurch dass das Bilderbuch von Peers übergeben wird, ist das Behandlungsteam entlastet und es können gleichzeitig unterstützende Gespräche zwischen den betroffenen Eltern entstehen.

Familiärer Kontext

Erfreulicherweise haben wir Rückmeldugen zum Bilderbuch aus allen Altersklassen bekommen.
Die Jüngsten sind natürlich unsere Frühchen. Hier haben wir die Rückmeldung von Eltern, dass bereits die Kleinsten gerne beim Vorlesen des Bilderbuchs aufmerksam zuhören und sich beim Hören der elterlichen Stimme entspannen können. Auch Geschwisterkinder verfolgen begeistert die Abenteuer von Tilda und Tinti und lernen durch die Bilder den Spitalkontext und die Abläufe auf der Neonatologie kennen. Eltern haben uns rückgemeldet, dass es Ihnen Sicherheit vermittelt hat, das Bilderbuch direkt am Lebensanfang anzuschauen und dabei alle Stationen bis zum Austritt kennezulernen und zu wissen, dass Rückschritte zur kindlichen Entwicklung dazu gehören. Zu Hause wird das Bilderbuch von der ganzen Familie verwendet: die frühgeborenen Kinder beginnen nach den Bildern von Tnti und Tilda mit ihrer Häkelkrake die eigenen Geschichte nachzuspielen, Geschwisterkinder schauen gerne mit ins Buch und bestimmte Stellen sollen von den Eltern wieder und wieder vorgelesen werden. Die Rückmeldung von der ältesten Leserin stammt von einer Grossmutter mit mittlerweile erwachsenen frühgeborenen Zwillingen. Sie hatte beim Lesen des Bilderbuches Tränen in den Augen und konnte dadruch ihre eigene Geschichte nochmals auf eine andere Art verarbeiten.